Aus dem Leben eines Regentropfens
Ein indisches Märchen
Meine Mutter, eine dicke schwere graue Regenwolke, kam gut gelaunt aus dem nordindischen Flachland, zwischen der Indus Ebene und dem Hindukusch nach Osten geschwebt, wo gerade hinter dem Eiskamm des Himalaya die Sonne zu ihrem Tagewerk emporklomm. Da wurde ich mit vielen, vielen Geschwistertropfen geboren, weil Mutter an die Hänge des Gebirges zu stossen drohte und sich erleichtern musste.
Es war wundervoll, gemeinsam mit den Geschwistern zu schweben, schwerelos im nebligen kühlen Halbdunst eines Dezembermorgens. Wir tanzten voller Glück umeinander, bis einige Miesepeter unter uns die Stimmung zu verderben suchten, indem sie schicksalsschwer murmelten: Euch wird das Tanzen schon noch vergehen, bald werdet Ihr aufschlagen und Euer Leben ist aus.
Doch wir waren jung und verspielt und liessen uns den schönen Morgen nicht verderben. Ich konnte sehr gut hören und lauschte einem Menschenkind, das aus einem kleinen Bergdorf zu mir und meinen Geschwistern schaute und ganz verzückt und ergriffenen zu seiner Menschenmutter sagte: Schau mal Mami, ein Regenbogen…
Ich wußte nicht was das ist, aber fühlte mich trotzdem glücklich, dem Kind eine Freude zu machen. Irgendein Zauber war da wohl in mir und meinen Geschwistern verborgen, den wir nicht erkennen konnten, und der dennoch da war und uns Freude schenkte.
Einmal erzählte mir mein Bruder, dass er schon einmal als Tautropfen auf der Welt war. Er lag nach einer kalten Nacht in der Blüte einer wundervollen Waldblume, in einem Land im hohen Norden Europas, es hiess Lappland oder so ähnlich, und als die ersten Sonnenstrahlen in die Lichtung fielen, sammelte er Strahlen aller Farben ein und glänzte wie ein Diamant.
Eine meiner vielen Schwestern hatte noch unglaublicheres zu berichten: Sie war einmal als ein Frostkristall von betörend schöner Sternenform in einer Winternacht unterwegs, in einem riesigen unberührten Eisland, das Labrador hiess. Wieder mit vielen Geschwistern, die umeinander wirbelten im Mondenschein, und scheinbar endlos lange zwischen Himmel und Erde tanzten, bis sie auf einem Eis-See landeten und sich dort miteinander zu einer dicken weissen Decke vermählten.
Einmal, wir waren schon lange unterwegs und konnten schon einige Einzelheiten der Erde erkennen, zum Beispiel einen türkisblauen Fluss mit dem seltsamen Namen GANGES, der sich durch die hohen Berge schlängelte, da sprach mich einer meiner Brüder an: Er sei Gelehrter und habe eine wichtige Wahrheit herausgefunden, die auch wissenschaftlich belegt sei: Es gäbe nur ein Leben für jeden Wassertropfen, und wenn er auf der Erde angekommen sei, wäre das Leben endgültig vorbei. Was meine anderen Geschwister mir erzählt hätten, seien nur fromme Wunschphantasien, die man als gebildeter Wassertropfen nicht glauben dürfe.
Ich konnte nicht schlafen, so traurig machte mich dieser Gedanke. Doch als ich den tosenden Fluss unten sah, in dem einige Menschen voller Glück herumschwammen, war das dumme Gesäusel des Gelehrten vergessen: Ich jauchzte bei dem Gedanken, bald in diesem Fluss mitschwimmen zu können, über Klippen und durch Schnellen, hinunter ins Tiefland und nach einigen Tagen dann ins Meer, wo große Strömungen mich in neue Abenteuer tragen würden. Und vielleicht werde ich ja eines Tages wieder aufsteigen aus dem Ozean und in einer frischen dicken glücklichen Watte-Wolke über ein anderes aufregend neues Land schweben.